Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Juli, im Jahre 1923:
Es ist ein sonniger Abend in einer kleinen Wohnung in Geestemünde. Martha Hüner dreht sich um zu ihrer Mutter. „Ich möchte nach Amerika“. „Do mi dat nich an, lat mi nich in Stich!“, erwidert diese hilflos.
Martha war gerade 17 Jahre alt geworden und arbeitet als Kindermädchen und Haushaltsangestellte. Der Monatslohn reicht dank der Inflation nicht einmal mehr für ein einzelnes Seifenstück. Zwei Tanten und drei Cousinen leben bereits im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Martha würde sich zumindest nicht ins Ungewisse begeben, wie so viele Auswanderer vor ihr.
August 2017:
Im Auswandererhaus Bremerhaven schlüpfe ich in die Identität von Martha. Ich bekomme an der Kassa eine Magnetkarte ausgehändigt und kann mit dieser Karte an vielen Hörstationen den Lebensweg der Auswanderin nachspüren.
Im Auswandererhaus Bremerhaven auf Spurensuche
Gemeinsam mit anderen Museumsbesuchern stehe ich an der Kaje und blicke zum riesigen Dampfer namens Lahn hinauf. Ist Martha auf dieses Schiff gestiegen? Musik ertönt: „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“. Ich schließe die Augen. Stimmengewirr ertönt. Husten, Geschrei, Geflüster, die Abschiedsworte werden in vielen europäischen Sprachen gesprochen.
44 Millionen Europäer sind zwischen 1821 und 1914 nach Übersee ausgewandert. 44 Millionen! Eine unglaubliche Zahl. Davon stiegen 7,2 Millionen in Bremerhaven an Bord. Bremerhaven war als Auswandererhafen beliebt, hier galt die „Bremer Verordnung“ aus dem Jahre 1832. Per Gesetz wurden die Reedereien verpflichtet, die Seetüchtigkeit ihrer Schiffe nachzuweisen und genügend Proviant mitzuführen.
Auf den Segelschiffen waren die Passagiere der dritten Klasse in sogenannten Zwischendecks untergebracht, für die Kajütenklasse (1. & 2.Klasse) reichte das Gehalt meist nicht. Die Verpflegung bestand aus Speck, Bohnen, Erbsen und Kartoffeln, Hühner wurden in Käfigen gehalten. Matratzen und Decken mussten von den Auswanderern selbst mitgebracht werden und wehe es kam ein Sturm auf. Dann wurden die paar stickigen Kubikmeter gar nicht mehr verlassen. Acht bis zwölf Wochen dauerte die Überfahrt.
Erst mit der Inbetriebnahme von Dampfschiffen stieg der Komfort. Die Überfahrt verkürzte sich auf ein bis zwei Wochen.
30.November 1923
Martha verabschiedet sich von ihrer Familie und steigt die Gangway zum Dampfschiff „München“ hinauf. Bürgschaftspapiere, die Fahrkarte und ein Scheck über 200 Dollar waren von den Tanten geschickt worden. In Marthas Gepäck befindet sich eine Pferdebürste, ein Abschiedsgeschenk ihres Vaters.
August 2017
In einer Vitrine in der Galerie der 7 Millionen ist eine Pferdebürste ausgestellt.
Welche Gründe gibt es um Auszuwandern? Das Auswandererhaus gibt Antworten
In diesem Raum sind etwa 2000 Namen von Auswanderern gesammelt, ich stöbere in Schubladen und höre mir Texte über ihre Auswanderungsgründe an. Oftmals waren es wirtschaftliche Motive, doch ebenso gab es politische oder religiöse Gründe. So flohen zehntausende osteuropäische Juden vor den russischen Pogromen.
Insgesamt verbringe ich knappe vier Stunden in diesem großartigen Museum, für das Thema Einwanderung bleibt mir leider keine Zeit mehr. Dabei steht noch ein zweiter Name auf meiner Eintrittskarte: Mai Phuong Kollath, die mit ebenfalls 17 Jahren ihre Heimat Vietnam verließ und in der damaligen DDR landet.
Martha ergeht es in Amerika nicht schlecht. Sie findet schnell Arbeit, heiratet keinen Cowboy, wie ihr Vater vermutet, sondern einen deutschen Bäcker, gemeinsam bauen sie sich eine Existenz auf. Zwar macht der „Black Friday“ dem ersten geplanten Heimatbesuch einen Strich durch die Rechnung, doch nach 13 Jahren fährt Martha zum ersten Mal wieder in ihre Heimat zurück. Weitere Besuche folgen. Erst als 79-jährige plagt sie das Heimweh, sie kehrt nach Deutschland zurück, im Gepäck eine Pferdebürste. Sie zieht bei ihrer Schwester ein und stirbt 81-jährig in Bremerhaven.
Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Columbusstr. 65
27568 Bremerhaven
Das Zitat in Plattdeutsch „Do mi dat nich an, lat mi nich in Stich!“ ist aus dem lesenswerten Buch von Hanna Wolff: „Martha. Geschichte einer Auswanderung. 1923: Bremerhaven-New York“, erschienen im Carl Schünemann Verlag, Bremen. Die Autorin ist Marthas Schwester Hanna.
Ebenfalls lesenswert ist der Ausstellungskatalog.
Die Einladung nach Bremerhaven erfolgte von Die Nordsee.
Mit mir unterwegs waren:
Janna aus den Niederlanden mit ihrem Blog JannaKampfhof und
die Nomadin Jeanette von JeanneMue
7 Kommentare
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GUDRUN KRINZINGER
Reiseblog von einer reiselustigen, strickbegeisterten, lesesüchtigen und fotografiewütigen Oberösterreicherin mit Hauptsitz Wien und Alte Donau.
Seit 2010 schreibe ich über meine Reisen auf dem Blog Reisebloggerin.at.
Ich war im Auswandererhaus auf anderen Spuren unterwegs. Auch rührende Schicksale! Wunderschön gemacht! Die Großeltern meines Mannes sind von Sizilien über Genua nach Buenos Aires ausgewandert. Der Vater meines Mannes, damals 5 Jahre, wollte die Heimat partout nicht verlassen und schubste einen von zwei Koffern mit der Familienhabe ins Wasser. Stell dir das einmal vor!
Schöner Bericht, liebe Grüße, Jutta
DAS ist wirklich eine Geschichte! Haben sie den Koffer dann wieder rausgefischt?
Ich bin mir sicher, dass es in diesem Museum viele spannende Geschichten zu entdecken gibt. Ich kann gut verstehen, dass du dort gleich mehrere Stunden verbracht hast. Martha hat übrigens am selben Tag wie ich Geburtstag 😉
LG
Flo
Danke für diesen schönen Bericht. Das Auswanderermuseum steht bei mir auch ganz oben auf der Liste der zu besuchenden Museen.
Gruß Cordula
Ich würde es sofort wieder besuchen!
Liebe Gudrun,
das klingt nach einem sehr spannenden Museum. Auswanderergeschichten interessieren uns als Kanada-Fans schon sehr. Bisher kennen wir allerdings nur Auswanderermuseen auf kanadischer und amerikanischer Seite. Da ist der Besuch eines deutschen Museums zu dieser Thematik faszinierend, bezieht er doch die Daheimgebliebenen mit ein.
Mal sehen, wann wir nach Bremerhaven kommen.
Liebe Grüße,
Monika
Unbedingt hinfahren, es ist ein tolles Museum…