Die Niederen Beskiden oder Die Entdeckung der Langsamkeit
[Werbung] Damit ich dem Motto PolandSoulTravel gerecht werde, nähere ich mich den Niederen Beskiden (Beskid Niski) in Polen mit dem Zug an. „Niedere Beskiden? Wo ist denn das?“ werden sich Leserinnen und Leser dieser Zeilen vielleicht fragen. Und so erging es auch mir, als ich eine Einladung in diese Destination in meinem Postfach fand. Und ich lernte, dass die Niederen Beskiden ein Gebirgszug sind, sie reichen von der östlichen Slowakei bis ins südöstliche Polen.
Mit dem Zug in die Niederen Beskiden
So steige ich also an einem Montagmorgen in Krakau in den Zug und tuckere gemächlich Richtung Osten. Vier Mädchen unterhalten das gesamte Abteil mit jugendlichem Übermut, Senioren machen es sich gemütlich und packen ihre Jause aus. Eine grauhaarige Schaffnerin mit strengem Gesicht richtet sich ihre Brille und segnet huldvoll mein Ticket ab.
Kaum verlässt die Bahn Krakau, ändert sich die Landschaft. Bäume und Grasflächen wechseln sich ab mit kleinen Ortschaften. Entlang der Bahngleise wächst Goldrute, eine invasive Pflanze, die auch in Österreich die Bahndämme säumt.
Ich bewundere kleine Gemüsegärten entlang der Strecke, mal mit, mal ohne Schrebergartenhäuschen. Eine schwarze Katze lugt hinter einem Grasbüschel hervor, ein Bauer mäht mit einer Sense eine Wiese. Im nächsten Dorf entdecke ich Pferde in einer Koppel, ein Fohlen galoppiert übermütig darin herum.
Der Regen klopft ans Zugfenster, ich zerre sicherheitshalber meine Jacke aus der Tasche. Noch 15 Minuten bis Grybów.
Ankommen in Grybów
Dort erwartet mich Michał, mein Gastgeber in den Niederen Beskiden, und hievt meinen Koffer ins Auto. Grybów ist eine Kleinstadt mit über 6000 Einwohnern. Schon ist der Kirchturm im Rückspiegel zu sehen, die Straße wird schmäler, links und rechts kommen neu gebaute Einfamilienhäuser in Sicht. Der Rasen vor den Häusern ist penibel gestutzt, statt mit Zäunen sind die Flächen zum Nachbarn akkurat mit Thujen abgegrenzt.
Je länger die Fahrt nach Ropki dauert, umso schmäler wird die Asphaltstraße, bis Michał in eine Schotterstraße einbiegt. Er macht mich auf eine Holzkirche aufmerksam, nur eine von vielen Besonderheiten in den Niederen Beskiden. Jetzt sind kaum mehr Häuser auszumachen und wenn, sind sie maximal einstöckig und aus Holz. Ein hellblau bemaltes Häuschen kommt in Sicht, das Elternhaus von Grażyna, Michałs Ehefrau.
Bei der nächsten Kreuzung biegt Michał nach links ab, am Baum ist ein Schild aus Holz angebracht, das den Weg nach Swystowy Sad weist. Eine Brücke mit blauem Geländer ist zu sehen, dazwischen erhasche ich den Blick auf ein Obstgarten, in dem ein Holzhaus steht. Michał lächelt und meint: „Willkommen in Swystowy Sad!“.
Swystowy Sad – Swysts Obstgarten
Das Haus, das ich in wenigen Minuten betreten werde, stand nicht immer auf diesem Platz. Grażyna und Michał ließen es unweit von Ropki abtragen und bauten es neu auf. Sie schufen mit Swystowy Sad, das übersetzt Swysts Obstgarten heißt, einen magischen Ort für Ruhesuchende.
Beim Aussteigen werden wir von drei Hunden freudig begrüßt, eine Katze huscht durch den Flur Richtung Veranda und versteckt sich unter einem Tisch.
Michał schleppt meinen Koffer über eine steile Holztreppe in den ersten Stock in ein kleines, gemütliches Dachgeschoßzimmer. Ich betrete das Wohnzimmer, es sprüht über vor Büchern, hauptsächlich in polnischer Sprache. Gesellschaftsspiele für Kinder und Erwachsene füllen ein eigenes Regal.
Grażyna steht in der Küche, der Kommandozentrale des Hauses, und verteilt Brombeeren über eine Kuchenmasse, die sie wenig später ins Rohr schiebt. „Bist Du hungrig?“, lauten ihre ersten Worte an mich. Noch bevor ich eine Antwort geben kann, steht ein Teller mit einem Omelette vor mir, ein weiteres Teller mit Käse wird aufgetischt, ein Brotkorb mit drei verschiedenen Sorten Brot landet vor ebenfalls mir. Es folgt ein Glas mit selbstgemachter Zwetschkenmarmelade, verfeinert mit Rosmarin.
Aus der Küche höre ich das Holz im alten Ofen knacken. In einer Pfanne rösten klein geschnittene Zwiebeln vor sich hin, ab und an wird umgerührt, Kraut wird beigemengt, mit dieser Mischung werden die Pierogi für das Abendessen gefüllt. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Die Frau, die Grażyna zur Seite steht und tatkräftig in der Küche hilft, ist mit Tochter und Enkelin aus der Ukraine geflohen. Das etwa dreijährige Mädchen purzelt durch das Erdgeschoß, verlangt viel Aufmerksamkeit und wird von allen Anwesenden fürsorglich umsorgt.
Die Geschichte der Lemken
Dass Grażyna und Michał Flüchtlinge aus der Ukraine aufnahmen, ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Denn schließlich wurden auch Grażynas Eltern, die zur Volksgruppe der Lemken gehören, aus ihrem hellblauen Haus in Ropki vertrieben. Das war im Jahr 1947 anlässlich der Aktion Weichsel (Akcja Wisła), wo Lemken, Boijken und Ukrainer zwangsumgesiedelt wurden. Man gab ihnen maximal zwei Stunden um ihre Sachen zu packen.
Zurück blieben Häuser, landwirtschaftliche Geräte, Tiere, Kirchen, Felder, Obstbäume und viele, viele Erinnerungen. Die Sehnsucht nach der Heimat war so groß, dass Grażynas Eltern nach zehn Jahren wieder in ihr Haus zurückkehrten. Ausnahmsweise wurde ihnen eine Erlaubnis für die Rückkehr erteilt, aber auch nur, weil das Häuschen noch stand und sogar bewohnbar war. Mit Grażynas Familie kehrte nur noch eine zweite lemkische Familie in die Region zurück.
Weil mich die Geschichte der Lemken zu interessieren beginnt, drückt mir Michał zwei Bücher über diese Volksgruppe in die Hand. Und Hania, die älteste Tochter der Familie, plaudert mit mir am nächsten Tag beim Frühstück über ihre Familiengeschichte. Netterweise erklärt sie sich bereit, mit mir einen Ausflug zu den einzigartigen lemkischen Holzkirchen in der Region zu machen.
Die Holzkirchen in den Niederen Beskiden
Die erste Kirche, die wir ansteuern, liegt in Kwiatoń, das ist eine Ortschaft etwa 20 Minuten mit dem Auto von Ropki entfernt.
Die St.-Paraskewi-Kirche ist der älteste Sakralbau der Lemken und wird heute von der römisch-katholischen Kirche genutzt. Die Lemken zelebrieren üblicherweise einen griechisch-katholischen Ritus, wie mir Hania erklärt. Die Kirche in Kwiatoń zählt gemeinsam mit 15 anderen Holzkirchen zum grenzübergreifenden UNESCO Weltkulturerbe. Glücklicherweise hat das Gotteshaus geöffnet und mit mir bestaunen noch fünf weitere Personen die Ikonastase und den im Spätbarock gestalteten Innenraum. Hania übersetzt mir flüsternd die wichtigsten Worte eines Mannes, der für die Kirche verantwortlich ist und den Schlüssel besitzt.
Eine Besonderheit sind auf jeden Fall die mit Holzschindeln kunstvoll gedeckten Zweibeltürme. Außerdem wurden bei Renovierungsarbeiten die Fragmente der ersten Ikonostase aus dem 17.Jahrhundert entdeckt.
Zwei weitere Kirchen werden von uns angesteuert, beide sind geschlossen und ich mache nur Schnappschüsse von den Fassaden.
Was kann man in den Niederen Beskiden sonst noch machen?
Hania zeigt mir auf einer Karte Wanderwege, die man zu einem Rundweg verknüpfen kann. Erst am nächsten Tag nehme ich die vierstündige Wanderung in Angriff, die mich über Wiesen und schmale Waldwege bis zur slowakischen Grenze bringt. Jetzt weiß ich, dass ich die Hälfte der Wanderung geschafft habe.
Weiter geht es über einen Feldweg Richtung Bieliczna. Vom ehemaligen Dorf Bieliczna, das 1935 noch aus etwa 35 Häusern bestand und um die 300 Einwohner zählte, ist aufgrund der Aktion Weichsel nur mehr die Kirche und ein kleiner Friedhof mit Grabsteinen übrig geblieben.
Über einen Feldweg wandere ich Richtung Swystowy Sad, wo mir als Belohnung eine Suppe aufgetischt wird.
Die Niederen Beskiden sind ein beliebtes Wandergebiet, erfahre ich von Michał, der die Region in seiner Kindheit als Pfadfinder kennengelernt hat. Die Radfahrer schätzen die Gegend allerdings ebenso wie Freunde des Reitsports.
Im Winter dominiert das Langlaufen und Skifahren ist in den Niederen Beskiden ebenfalls möglich.
Zeit finden zum Nichtstun
Das heißt also, vieles ist möglich, doch wie wäre es, die geplanten Aktivitäten auf ein Minimum zu reduzieren? Frühmorgens einen gemütlichen Spaziergang machen, sich beim Frühstück verwöhnen lassen, das Lieblingsbuch hervorkramen und nochmals lesen, den Hummeln beim Nektarsuchen zusehen, einen Hund streicheln und den Nachmittag im Liegestuhl verbringen?
Oder nehmen wir uns ein Vorbild an Pippi Langstrumpf:
„Faul sein ist wunderschön! Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen“
Swystowy Sad ist der richtige Ort dafür.
Swystowy Sad
Ropki 10
38-316 Wysowa
Beskid Niski – Niedere Beskiden
Webseite in polnischer Sprache, die Gastgeber sprechen englisch
GUDRUN KRINZINGER
Reiseblog von einer reiselustigen, strickbegeisterten, lesesüchtigen und fotografiewütigen Oberösterreicherin mit Hauptsitz Wien und Alte Donau.
Seit 2010 schreibe ich über meine Reisen auf dem Blog Reisebloggerin.at.