Monatsrückblick Juni
Nein, niemals hätte ich gedacht dass ich im Juni wieder an einem Nachruf sitze. Niemals hätte ich gedacht, dass dieses Monat wie in einem dichten Nebel versinken wird. Zugleich schleichen sich bittersüße Erinnerungen in mein Gedächtnis, wenn ich zum Beispiel in Fotoalben blättere oder durch deinen Garten spaziere, den du so geliebt hast.
Ich habe noch deine Stimme im Ohr: „Schau, die Ribisel werden schon reif!“ und „Hast du schon gesehen, unten beim Brunnen, die Passionsblumen!“ und „Schau, der Natternkopf, den du mir aus Madeira mitgebracht hat, wie schön der blüht.“
Ich habe sogar noch deinen Geruch in der Nase, ein feines Gemisch aus Mehlstaub und Zucker, eine richtige Zuckerbäckermischung, eine Hommage an deinen Beruf, den du so gewissenhaft ausgeführt hast.
Während ich also hier sitze und schreibe, prasseln noch mehr Erinnerungen auf mich ein. Zugleich laufen Tränen über mein Gesicht.
Ein Nachruf an meinen Vater
Lieber Vati,
Du warst Ehemann und Vater, Opa, Uropa und Schwiegervater. Du warst Bruder, Schwager, Onkel und Großonkel. Du warst Nachbar, Freund, Arbeitskollege und eine wichtige Stimme im Männergesangsverein.
Du warst aber auch ein Märchenerzähler, einer, der uns Kindern beim sonntäglichen Kirchgang von Sulzbach nach Pichl an der Hand nahm und uns ein Märchen erzählte. Wir durften wählen: das Märchen vom Schuster oder das vom Schneider.
Du warst ein Bergsteiger, der frühmorgens mit meinen Brüdern Hermann und Christof den Traunstein bezwang. Beide waren Kinder, aber Du hast es ihnen zugetraut, den Gipfel zu erklimmen.
Du warst nicht nur Lehrmeister in der Backstube in der Konditorei Urbann in Wels, sondern auch in der „Puppenküche“, wie du oft sagtest, daheim in Sulzbach. Unter deiner Anleitung lernte ich das perfekte Formen von Vanillekipferln und das Rollen von Biskuitrouladen.
Du warst Samenbankbesitzer und Vogelflüsterer und Du hast viel und gerne gelesen. Ein guter Zuhörer warst Du auch.
Du warst Blitzableiter, wenn in Sulzbach der Haussegen schief hing und Du warst Weltmeister im Schnarchen.
Du hast nie studiert, aber du hattest eine handgeschriebene Liste von all deinen Blumen im Garten, angelegt in lateinischer Sprache. Der Garten ist groß und die Liste war lang.
Du hast vieles besser gewusst, aber Du warst nie ein Besserwisser.
Würde ich Dich mit einem Teil von dieser Kirche vergleichen, wo du jahrelang als Mesner gedient hast, dann wärst Du ein Eckpfeiler, eine wichtige Stütze.
Die letzten Monate waren sehr anstrengend für Dich. Die Schmerzen ertrugst Du mit einer äußerlichen Gelassenheit, aber sie haben Dir mehr zugesetzt, als Du zugeben wolltest.
Was wir von Dir lernen durften?
Jeden einzelnen Tag mit Demut und Dankbarkeit anzunehmen, den Augenblick zu genießen, im hier und jetzt zu leben und keine Angst vor dem Tod zu haben.
Dafür danke ich dir.
Rückreise
Als mich die Nachricht vom Tod meines Vaters erreichte, war ich gerade mit dem Wohnmobil in Rumänien unterwegs. Logischerweise wollte ich so schnell wie möglich nach Hause, aber auch die schnellstmögliche Rückfahrt hätte uns drei volle Tage Fahrzeit gekostet. Und das würde uns auch nur gelingen, wenn das Wetter mitspielte.
Das Wetter spielte allerdings nach seinen eigenen Regeln. Der Himmel weinte, eine Gewitterfront nach der anderen jagte über unseren Köpfen hinweg. Wir suchten uns einen Stellplatz in der Nähe eines Flusses und wollten den Regen abwarten. Plötzlich machte mein Mobiltelefon ein lautes Pling und eine Hochwasserwarnung erschien am Display. Misstrauisch beäugten wir von nun an den Pegel des Flusses. Abwarten oder weiterfahren?
Wir suchten Schutz in der nächst größeren Stadt und verbrachten die Nacht auf einem Parkplatz. Den Plan, schnellst möglich heimzufahren verwarf ich. Meine Geschwister hatten bereits alles nötige organisiert und vor Ort wartete niemand auf mich.
Denn mein Elternhaus, mein Zuhause, mein daheim war leer bis auf Erinnerungen.
Wo bist du daheim?
Auf die Frage „Wo bist du daheim?“ antwortete ich immer ohne zu zögern: „In Oberösterreich“. Daheim, das war für mich ein kleines geducktes Haus mit großem Garten samt Vogelhaus und Vogelgezwitscher, ein großer Holztisch in der Stube, ein Kreuz im Herrgottswinkel, auf Kante gebügelte und gefaltete Tischdecken in Kästen und Schubladen und eine riesige Auswahl von Tee- und Kaffeeservices in übervollen Schränken.
Daheim, das war das Steigen der Steinstufen in das Kellergewölbe, um etwas von den essbaren Vorräten zu holen, ein Glas selbstgemachte Marmelade zum Beispiel, ein Salathäuptel oder ein Bund Karotten, ein tiefgefrorener Kuchen aus dem Gefrierschrank oder eine Flasche Bier.
Daheim, das war der Schrank mit den Fotoalben, versehen mit Aufklebern und wackeligen Buchstaben, im inneren geklebte Bilder auf dickem Papier, die ersten Lebensjahre meiner Eltern und Geschwister in schwarz-weißer Farbe dokumentiert, später in Farbe, so manche verblasst.
Und eigentlich ist das alles noch da, noch viel mehr als von mir aufgezählt, aber das wesentliche fehlt, die Hauptpersonen, die dieses Zuhause zu meinem daheim gemacht haben.
Daheim, das wird von nun am immer etwas sein, was ich vermissen werde.
Was hat sich im Juni sonst noch getan?
Was ich gelesen habe:
Dana Grigorcea, Die nicht sterben
Rita Klaus, Tatsächlich Transsilvanien
Dorothee Riese, Wir sind hier für die Stille
Alaine Polcz, Frau an der Front
Mareike Fallwickl, Und alle so still
Dani Shapiro, Leuchtfeuer
Irvin Yalom, Unzertrennlich
Tonio Schachinger, Echtzeitalter
Caroline Wahl, Windstärke 17
Herausragend in dieser Liste sind Mareike Fallwickls „Und alle so still“ und Caroline Wahl „Windstärke 17“. Zwei sehr unterschiedliche Bücher, denen ich viele Leserinnen und Leser wünsche.
Was habe ich im Kino gesehen:
Die Herrlichkeit des Lebens
Welcome Venice
Ein Ausflug nach Gmunden
Gmunden am Traunsee ist ein Ort meiner Kindheit. Jahr für Jahr marschierten wir schwerbepackt mit Proviant für eine Woche im Rucksack vom Seebahnhof Gmunden Richtung Laudachsee um dort auf einer Almhütte die Sommerferien zu verbringen.
Wie oft habe ich als Kind meine Zehen in den eiskalten Traunsee getaucht?
Diesmal führt mich die Kulturhauptstadt Salzkammergut 2024 nach Ebensee. Im KZ-Gedenkstollen hat die japanische Künstlerin Chiharu Shiota ein Kunstwerk aus Kleidern und roten Fäden geschaffen.
Es trägt den Titel „Wo sind wir jetzt?“
Wo bin ich jetzt? frage ich mich, als ich in der Konditorei Baumgartner meinen Löffel in den Eiskaffee tauche. Im hier, im jetzt, in der Erinnerung oder in der Zukunft?
Und schon wieder kommen mir die Tränen.
Was habe ich sonst noch gemacht:
Rosen zurückgeschnitten
eine Raupe bestaunt
Glühwürmchen gezählt
Ribisel gepflückt
dem Funkenflug eines Lagerfeuers zugesehen
Nussschnecken gebacken
einer Lilienexplosion beigewohnt
meinen Lieblingssalat zubereitet
Blüten für die Urnennische gesammelt
zum Begräbnis einer Nachbarin gegangen
einen Zweitpass beantragt und auch bekommen
einen wunderbaren Gastbeitrag über Rom in meinen Blog eingepflegt
am Rathausplatz den Rolling Stones gelauscht
geweint und gelacht, oftmals auch gleichzeitig
Für die Statistik:
Gegangene Schritte: 178.851
Flöte gespielt: 0
Bouldern: 0
Yoga: 0
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GUDRUN KRINZINGER
Reiseblog von einer reiselustigen, strickbegeisterten, lesesüchtigen und fotografiewütigen Oberösterreicherin mit Hauptsitz Wien und Alte Donau.
Seit 2010 schreibe ich über meine Reisen auf dem Blog Reisebloggerin.at.
Liebe Gudrun,
ein berührender Bericht, den ich sehr gut nachvollziehen kann. Alles Gute für Dich und vielen Dank für das Teilen.
Liebe Grüße, Uta